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Vier Tage, Drei Nächte

Ich habe mich einer meiner größten Ängste gestellt – und vier Tage lang Einblicke in eine andere Welt erhalten.

Es war ein Traum, der alles in Bewegung setzte. Im Herbst 2023 träumte ich, ich säße auf einer Brücke über der Mur im Zentrum von Graz, Österreichs zweitgrößter Stadt, und bettelte. Es war ein eindringliches Bild, verbunden mit einem unerklärlichen Gefühl: Freiheit.

Bis dahin kannte ich Graz nur oberflächlich – von Tagesausflügen und einigen Hotelaufenthalten während meiner Pilotenzeit. 300.000 Einwohner zählt die Stadt, eine hübsche Altstadt mit vielen Cafés und gepflegten Parks direkt an der Mur. Ein gutes halbes Jahr später bin ich dort. Vier Tage habe ich mir freigeschaufelt, um der Sache auf den Grund zu gehen. Mich dem auszusetzen, wovor ich in meinen schlaflosen Nächten am meisten Angst hatte: zu scheitern und ins Bodenlose zu fallen. Alles zu verlieren. So sehr ich es mir auch vorstellte, ich konnte es mir nicht vorstellen. So ein Leben war zu weit weg. Allein in der Wildnis, minimalistisch leben, 3000 Kilometer laufen – das hatte ich alles schon ausprobiert. Aber mitten in der Großstadt, in Mülltonnen nach Essen suchen, auf dem Asphalt schlafen und tagelang die Kleidung nicht wechseln – das war eine andere Kategorie. Wohin auf die Toilette? Was tun, wenn es regnet? Wen um Essen anbetteln? Wie geht man damit um, anderen lästig zu fallen, die einen bestenfalls ignorieren? Wenn alles, was wir in unserem Leben oft als selbstverständlich erachten, wegfällt, was bleibt dann eigentlich noch von uns selbst übrig?

Ich starte mein Experiment an einem Donnerstag Ende Mai gegen Mittag in einem Parkhaus im Grazer Jakomini. Ich bin gespannt und gut vorbereitet. In diesem Fall heißt das: zerrissene Kleidung und möglichst wenig Gepäck.

Nach ein paar Schritten kommt mir eine Frau auf dem Gehsteig entgegen: schulterlanges braunes Haar, gutaussehend, geschminkt und voller Energie. Ich: lächelnd. Sie: blickt durch mich hindurch. Das irritiert mich. Bis ich mein Spiegelbild in einem dunklen Schaufenster sehe. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten trage ich einen Bart. Statt eines weißen Hemdes trage ich ein zerfetztes blaues T-Shirt, dessen Schriftzug sich löst. Meine Haare sind ungewaschen und unter einer zerschlissenen, grauen Schirmmütze verborgen. Meine Jeans ist fleckig, der oberste Knopf ist mit einem Gummiband zusammengebunden. Statt lässiger Turnschuhe tragen meine Füße schwarze, schlammverkrustete Schuhe. Kein Smartphone. Kein Internet. Kein Geld. Stattdessen eine Plastiktüte aus der Drogerie über der Schulter. Inhalt: eine kleine Plastikflasche mit Wasser, ein alter Schlafsack, eine Regenjacke und ein Stück Plastikfolie. Die Wettervorhersage ist wechselhaft; vor ein paar Tagen hat ein Mini-Tornado die Stadt heimgesucht. Ich habe keine Ahnung, wo ich die Nacht verbringen werde. Einzige Voraussetzung: Es wird auf der Straße sein.

Die Idee zu einem solchen „Straßen-Retreat“ stammte vom amerikanischen Zen-Mönch Bernie Glassman. Glassman, 1939 in New York geboren, absolvierte eine Ausbildung zum Flugzeugingenieur und promovierte in Mathematik. In den 1960er Jahren traf er in Kalifornien einen Zen-Meister und wurde später selbst einer. Er glaubte nicht daran, Spiritualität nur im Tempel zu leben. Er wollte hinaus auf das Spielfeld des Lebens und den Dreck zwischen seinen Fingern spüren. „Zen ist das Ganze“, schrieb Bernie Glasmann, „der blaue Himmel, der bewölkte Himmel, der Vogel am Himmel – und der Vogelkot, in den man auf der Straße tritt.“

Seine Schüler, darunter Schauspieler Jeff Bridges, folgen drei Prinzipien: Erstens: Glaube nicht, dass du etwas weißt. Zweitens: Erlebe, was tatsächlich vor deinen Augen geschieht. Und drittens: Handle aus dieser Motivation heraus.

Die Beschreibung der Retreats – im Rahmen derer Glassman auch CEOs großer Unternehmen tagelang auf Reisen mitnahm – liest sich im Internet wie eine Anleitung zur Auflösung der eigenen Identität. Um in Stimmung zu kommen, soll man sich fünf Tage lang zu Hause weder rasieren noch die Haare waschen. Meine Töchter und meine Frau beobachten das mit Argwohn; sie wissen nicht recht, was sie damit anfangen sollen.

„Wir könnten einen Obdachlosen einladen“, schlägt meine jüngere Tochter vor. Das würde in ihren Augen mehr Sinn ergeben.

Vielleicht.

Aber zu erleben, wie es ist, die Nacht ohne jeglichen Komfort auf der Straße zu verbringen, ist eine andere Sache. Der einzige persönliche Gegenstand, den ich besitzen darf, ist ein Personalausweis.

Was die Motivation angeht, bin ich zufrieden, solange die Sonne scheint. Die Leute sitzen in den Cafés, das Wochenende ist nicht mehr weit. Sie stoßen mit einem Apérol an und lachen. Gestern war das auch meine Welt, doch ohne einen Cent in der Tasche ändert sich alles. Selbstverständliches ist mir plötzlich unerreichbar. Sesam, öffne dich – nur die Zauberformel fehlt. Kein Bankautomat, der mich aus der Patsche hilft. Kein Freund, der mich einlädt. Erst jetzt wird mir bewusst, wie kommerzialisiert unser öffentlicher Raum ist. Wie durch eine unsichtbare Glasscheibe getrennt, stapfe ich ziellos durch die Stadt. Ich spähe in Altpapiercontainern nach Kartons für die Nacht und halte Ausschau nach unauffälligen Schlafplätzen.

Das Gelände des Ostbahnhofs ist mit Videokameras und Zäunen gesichert, deshalb versuche ich gar nicht erst hineinzukommen. Im Stadtpark: Tristesse. Das Gebäude des ehemaligen Künstlertreffs Forum Stadtpark liegt verlassen, unweit des Treffpunkts junger Leute, die unter Drogen stehen. Sie schreien und streiten. Die Polizei patrouilliert mit ihren Streifenwagen. Jogger drehen dazwischen ihre Runden. Ein paar Gehminuten weiter oben, auf dem Schlossberg, mit seinem Uhrturm – dem Wahrzeichen der Stadt – und einem Panoramablick über die Dächer, entlohnen den Aufstieg. Der Rasen ist hier gepflegt, Rosen blühen, ein Biergarten versorgt Touristen. Ein junges deutsches Paar sitzt auf der Bank neben mir. Er hat Geburtstag, er ist Mitte 20, und hört eine Sprachnachricht seiner Eltern, die ihn offensichtlich sehr lieben. Man hört die Küsse, die sie ihm immer wieder schicken, während seine Freundin ihn umarmt. Feiern Obdachlose Geburtstag? Mit wem?

Regentropfen reißen mich aus meinen Gedanken.

Der Chinesische Pavillon mit seinem Dach würde zwar Schutz vor Regen bieten, doch die Bänke sind zu eng für eine Übernachtung. Vielleicht ist das Absicht. Und auch hier blicken Videokameras aus jeder Ecke. Zu bequem sollte es sich hier niemand machen.

Im Augarten, direkt am Murufer, gibt es zwar hölzerne Sonnendecks, aber dort zu übernachten ist wie in einem Schaufenster zu liegen, weithin sichtbar und beleuchtet, und ich habe keine Lust auf Polizeikontrollen, die mich unsanft aus dem Schlaf reißen. Die versteckteren Plätze am Ufer sind wegen des Murhochwassers abgesperrt. Gar nicht so einfach, einen guten Schlafplatz zu finden. Oder bin ich zu wählerisch? Baustämme treiben im braunen Wasser vorbei, ein paar Enten schwimmen in einer Bucht. Nicht weit entfernt sitzt ein Mann auf einer Parkbank, ungefähr in meinem Alter, also um die 50. Er sieht etwas mitgenommen aus und kaut auf einem Käsebrötchen herum. Mein Magen knurrt. Soll ich ihn ansprechen? Ich zögere, gebe dann aber nach. Weiß er, wo man in Graz ohne Geld etwas essen kann? Er sieht mich kurz an, senkt dann den Blick und isst weiter. Unschlüssig bleibe ich stehen, und er bedeutet mir mit einer Handbewegung, wegzugehen.

„Nicht, nicht!“, sagt er wütend.

Wie schwierig ist es, mit anderen Obdachlosen zu kommunizieren? Vor allem, wenn die meisten von ihnen auch Alkohol- und psychische Probleme haben. Gibt es Solidarität? Hilft man sich gegenseitig? Ich weiß noch so gut wie nichts darüber. Ich habe vorher erfahren, dass es am Hauptbahnhof eine Bahnhofsmission mit Tagesstätte und vermutlich auch etwas zu essen gibt. Also mache ich mich auf den Weg. Unterwegs komme ich an zwei öffentlichen Toiletten vorbei. Wenigstens braucht man keine Münzen, um reinzukommen. Ich riskiere einen Blick. Der Toilettensitz fehlt. Es riecht beißend nach Urin. Toilettenpapier liegt zerrissen auf dem Boden. Okay. Ich gehe später auf die Toilette.

Im Volksgarten, den ich durchquere, flüstern junge Kids mit arabischen Wurzeln und scheinen sich nicht ganz sicher zu sein, ob ich Drogen oder sonst etwas von ihnen kaufen will. „Was brauchst du?“, fragt einer, halb so alt wie ich. Wortlos gehe ich weiter. Endlich stehe ich vor der Bahnhofsmission. Hinter der Glastür prangt ein Schild: „Geschlossen“. Bis zum Winter. Und jetzt? Ich habe keine Ahnung. Ich schaue mich um. Ein Taxistand. Busse. Ein Supermarkt. Viel Asphalt. Autos. Abgase. Hitze. Kein gemütlicher Ort. Müdigkeit macht sich breit. Das Gefühl, nirgendwo willkommen zu sein.

Als Obdachloser, das wird mir in diesen Minuten bewusst, hat man keine Privatsphäre, ist ständig im öffentlichen Raum unterwegs. Daran kann man sich nicht leicht gewöhnen.

Ein paar hundert Meter weiter verteilt die Caritas im Restaurant „Marienstüberl“ Brötchen. Ich stolpere am Tor vorbei. Wer pünktlich um 13 Uhr da ist, bekommt sogar eine warme Mahlzeit, ohne Fragen. Ich habe sie um zwei Stunden verpasst, aber ein freundlicher Beamter reicht mir drei Brötchen mit Eiern, Tomaten, Salat, Thunfisch und Käse. Außerdem darf ich mir ein Brot in die Plastiktüte stopfen.

Vorerst bin ich zufrieden, sitze auf einer Bank direkt an der Mur in der Altstadt und beiße in das Sandwich. Von meinem Experiment habe ich vorher nur wenigen Leuten erzählt. Nicht alle finden es toll. Auch Bernie Glassman wurde immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, er sei gar nicht obdachlos, sondern würde es nur vortäuschen. Doch das störte ihn nicht: Besser einen Blick auf eine andere Realität zu erhaschen, als keine Ahnung davon zu haben, argumentierte er.

Statistiken zeigen ohnehin: Je länger Obdachlosigkeit andauert, desto schwieriger ist es, ihr zu entkommen. Soll ich bei zufälligen Begegnungen mit Betroffenen meine wahre Identität preisgeben? Zugeben, dass es sich für mich um einen vorübergehenden Ausflug handelt? Ich habe mir vorgenommen, spontan zu entscheiden und lieber auszuweichen, als zu lügen.

Die Wahrheit ist jedenfalls: Ich habe immer noch keinen Schlafplatz für die Nacht, und meine Stimmung droht zu kippen, als wieder dicke Regentropfen vom Himmel fallen. Ich habe keine Ersatzkleidung. Wenn ich nass werde, bleibe ich die ganze Nacht nass. Außerdem bin ich jetzt total müde, und die Plastiktüte nervt mich. Ohne Google Maps muss ich mich auf mein Gedächtnis und die Schilder verlassen. Ich habe versucht, mir die wichtigsten Straßen im Voraus einzuprägen, aber jede falsche Abzweigung bedeutet einen Umweg. Jetzt spüre ich es.

Ich gehe am Opernhaus vorbei, drinnen strahlt es in festlicher Beleuchtung. Eine Frau huscht durch die Eingangstür. Es ist halb acht. Dunkle Wolken ziehen am Himmel auf. Was nun? Soll ich es mir in der Einfahrt eines Autohauses oder auf einer Parkbank im Augarten gemütlich machen? Ich bin unentschlossen. Erst als ich im Süden der Stadt auf ein Industriegebiet stoße, eröffnet sich eine passende Möglichkeit: unter der Treppe zum Warenausgang eines großen Möbellagers. Im Freien gibt es Nischen, hinter denen man nicht gleich gesehen wird. Zwei vor der Treppe geparkte Lieferwagen sorgen für Privatsphäre. Trotzdem warte ich, bis es dunkel wird, bevor ich mich wage, meinen Schlafsack auszurollen. Ich stelle ein paar Getränkekartons darunter und schlafe schließlich mit Blick auf Autoreifen, Nummernschilder und eine Kartonpresse ein. Als auf den Nachbargleisen der Schnellzug vorbeifährt, vibriert die Erde und reißt mich aus meinem Halbschlaf.

Was ich nicht wusste: Leere Parkplätze in Industriegebieten üben offenbar eine magische Anziehungskraft auf Nachtschwärmer aus. Bis etwa zwei Uhr morgens taucht immer wieder jemand auf. Ein paar Meter entfernt parkt ein Paar für ein paar Minuten. Irgendwann hält hinter dem parkenden Lastwagen ein aufgemotzter Sportwagen, seine polierten Alufelgen glänzen im Mondlicht. Ein Mann in Shorts steigt aus, raucht eine Zigarette, telefoniert in einer fremden Sprache und regt sich auf. Er läuft auf dem Parkplatz auf und ab. Dann dreht er sich in meine Richtung um. Mir stockt der Atem. Ein paar Sekunden, in denen ich mich nicht traue, mich zu rühren, schauen wir uns in die Augen. Vielleicht wäre ein Handy in der Tasche doch eine gute Idee gewesen, nur für den Fall. Er scheint sich nicht sicher zu sein, ob jemand da ist. Ruhig steht er da und starrt in meine Richtung. Dann schreckt er aus seiner Starre hoch, steigt ins Auto und fährt davon. Ich atme erleichtert auf. Irgendwann, weit nach Mitternacht, schlafe ich ein.

Es ist Vollmondnacht, und das hat etwas Beruhigendes. Der Mond scheint für alle, egal wie viel Geld man in der Tasche hat. So wie die Vögel für alle zwitschern, wenn um halb fünf langsam der Tag anbricht. Ich krieche aus meinem Schlafsack, strecke mich und gähne. Rote Flecken auf meinen Hüften sind Spuren einer unruhigen Nacht. Ein müdes Gesicht starrt mich aus dem Rückspiegel des Vans an, die Augen zugeschwollen. Ich fahre mir mit staubigen Fingern durch die zerzausten Haare. Vielleicht bekomme ich irgendwo einen Kaffee?

Noch ist es ruhig auf den Straßen. In einem benachbarten Nachtclub neigt sich die Schicht dem Ende zu. Eine junge Frau kommt aus der Tür, schlüpft in ihre Jacke, zieht an einer Zigarette und steigt dann in ein Taxi. Vor einem Bürogebäude beginnen Mitarbeiter einer Reinigungsfirma ihre Schicht. Ein Mann geht mit seinem Hund spazieren und wartet vor einem gesperrten Bahnübergang. Der McDonald's in der Nähe des Messegeländes hat noch geschlossen. Gegenüber an der Tankstelle frage ich den Tankwart, ob ich einen Kaffee haben könnte. „Aber ich habe kein Geld“, sage ich, „geht das noch?“ Er sieht mich verdutzt an, dann den Kaffeeautomaten, dann überlegt er kurz.

„Ja, das geht. Ich mache dir einen kleinen. Was magst du?“ Er reicht mir den Pappbecher, Zucker und Sahne. Ich setze mich an einen Stehtisch, zu müde zum Reden. Hinter mir hockt jemand wortlos an einem Spielautomaten. Nach ein paar Minuten gehe ich dankbar weiter. „Schönen Tag noch!“, wünscht mir der Tankwart.

Draußen hebe ich die Deckel einiger Biotonnen an, in der Hoffnung, etwas Brauchbares zu finden, doch außer Gemüseresten ist nichts da. Mein Frühstück besteht aus Stücken des Brotes vom Vortag.

Gegen sieben Uhr erwacht die Stadt. Marktstände bauen ihre Stände auf dem Lendplatz auf und verkaufen Kräuter, Gemüse und Obst. Es duftet nach Sommer. Ich frage eine Verkäuferin, ob sie mir etwas schenken kann. Sie gibt mir einen Apfel und wirkt etwas verlegen.

„Das hier gebe ich dir!“, sagt sie.

Weniger Glück habe ich beim Bäcker: „Das nicht verkaufte Gebäck geht nachmittags immer zu Too Good to Go“, sagt die Dame hinter der Theke. Immerhin lächelt sie höflich, obwohl ich keine Kundin bin.

Selbst ein paar Läden weiter, wo Leute auf dem Weg zur Arbeit schnell frühstücken, will keiner der Verkäufer mit den frischen Stoffschürzen weichen. Bleibt die Hardcore-Option: Betteln auf der Straße. Es kostet mich große Überwindung, mich mitten in Graz fragenden Kinderaugen und skeptischen Blicken auszusetzen. Ein Straßenbahnfahrer starrt mich aus den Augenwinkeln an. Menschen in Anzügen marschieren auf dem Weg zur Arbeit.

Ich mache es trotzdem.

Mitten in der Rushhour, neben Straßenbahngarnituren, vorbeirollenden Radfahrern und Schuhpaaren, setze ich mich auf den Boden, vor mir steht der leere Kaffeebecher von der Tankstelle. Ich stehe auf der Erzherzog-Johann-Brücke, genau dort, wo ich im Traum gebettelt habe.

Die ersten Sonnenstrahlen fallen auf die Straße. Wenige Meter tiefer plätschert das braune Hochwasser gegen die Brückenpfeiler. Ich schließe die Augen und vergleiche das Gefühl mit meinem Traum. Es ist wie das Gegenteil meines früheren Lebens in der glänzenden Pilotenuniform – vom Schweben über den Wolken hinab in den Schmutz des Alltags auf der Straße. Als bräuchte ich diese Perspektive als Mosaikstein, um das Panorama zu vervollständigen. Das ist Menschsein in all seinen Facetten. Alles ist möglich, die Bandbreite ist riesig. Und doch: Hinter der Fassade bleibt etwas unverändert. Ich bin derselbe. Vielleicht liegt daher das Gefühl von Freiheit im Traum, das so gar nicht zur Situation zu passen schien.

Ein Mann im Jackett kommt von rechts näher, er hat Kopfhörer in den Ohren. Blitzschnell mustert er mich im Vorbeigehen, beugt sich dann zu mir herüber und wirft ein paar Münzen in den Becher. „Vielen Dank!“, sage ich, als er schon ein paar Meter entfernt ist. Nur wenige Passanten wagen direkten Blickkontakt. Die Leute sind auf dem Weg zur Arbeit. Das Tempo ist hoch. Eine Frau im Kostüm läuft in Lackschuhen vorbei, ein Mann im Anzug auf einem E-Bike zieht an seiner E-Zigarette und lässt im Vorbeigehen lässig die Hand baumeln. Wir spielen unsere Rollen so gut, dass wir sie am Ende selbst glauben.

Ab und zu werfe ich einen direkten Blick ein. Ein dreijähriges Mädchen schaut mich neugierig an, dann zieht ihre Mutter sie mit sich. Ein älterer Mann scheint mich mit seinen Blicken aufmuntern zu wollen. Und dann kommt eine Frau vorbei, vielleicht Anfang 30, im T-Shirt, freundliches Gesicht, blonde Haare. Sie sieht mich einen Moment so sanft an, dass mich ihr Blick, der nicht länger als eine Sekunde währt, durch den Rest des Tages trägt. Keine Fragen, keine Kritik, kein Tadel – nur Freundlichkeit. Sie schenkt mir ein Lächeln, das mehr wert ist als alles andere. Im Becher sind ohnehin nicht viele Münzen. 40 Cent in einer halben Stunde. Das reicht nicht für ein ausgiebiges Frühstück.

Umso pünktlicher bin ich zum Mittagessen im Marienstüberl, kurz vor 13 Uhr. Es ist muffig drinnen. Keine Tischdecken, keine Servietten. Lebensgeschichten spiegeln sich in abgenutzten Körpern, kaum ein Lächeln ist auf den Gesichtern zu finden.

Augenpaare folgen mir stumm, während ich nach einem Platz suche. Überhaupt scheint hier jeder für sich zu sein. Einer kauert am Tisch, den Kopf in den Armen. Schwester Elisabeth kennt jeden. Seit 20 Jahren führt sie das Marienstüberl und entscheidet, wer bleiben darf und wer gehen muss, wenn es Streit gibt. Resolut und katholisch, trägt sie eine getönte Brille und einen dunklen Schleier auf dem Kopf. Bevor sie das Essen austeilt, betet sie. Ins Mikrofon. Erst das „Vater unser“. Dann das „Ave Maria“. Einige beten laut, andere bewegen nur die Lippen, wieder andere schweigen. Im Speisesaal unter den Jesusbildern sitzen ältere Damen ohne Zähne neben Flüchtlingen aus dem Nahen Osten, Afrika und Russland. Menschen, die auf der Flucht alles verloren haben. Emotionen können aus dem Nichts aufblitzen, heftig, unerwartet, und schnell folgen Fäuste. An einem der Tische droht ein Streit zu eskalieren; zwei Männer sind in Streit geraten, wer zuerst da war. Die beiden Zivildienstleistenden mit ihren blauen Gummihandschuhen wirken hilflos. Dann stürzt sich Schwester Elisabeth ins Getümmel, brüllt los und sorgt mit der nötigen Autorität für Ordnung.

„Wir müssen den Streit hinter uns lassen“, sagt sie. „Versöhnung ist wichtig, sonst werden wir jeden Tag Krieg in unseren Herzen haben. Gott helfe uns, denn wir schaffen es nicht allein. Gesegnetes Mahl!“

Ich sitze neben Ines aus Graz und löffle die dünne Erbsensuppe. „Ich hätte gern noch eine Portion“, bittet sie die Bedienung. Sie erzählt von ihrer Kindheit, als ihre Mutter sie zum Kleiderkauf nach Wien mitnahm und sie im Hotel übernachten durfte. Und davon, dass sie einmal im Jahr an einer von der Diözese organisierten Wallfahrt teilnimmt.

„Als wir einmal beim Bischof waren“, erzählt sie, „wurde uns etwas aufgetischt, was ich noch nie erlebt habe!“ Nach dem Hauptgang, Kartoffelpuffer mit Salat, verteilen die Ehrenamtlichen Becher mit Birnenjoghurt und leicht gebräunten Bananen.

Bevor sie geht, flüstert mir Ines noch einen Geheimtipp zu: Wer nachmittags eine Stunde in der Kapelle den Rosenkranz betet, bekommt anschließend Kaffee und Kuchen!

Kaum haben sie gegessen, stehen die meisten auf und gehen, ohne Hallo zu sagen. Zurück in eine Welt, die nicht auf sie gewartet hat. Smalltalk ist für andere.

Nach dem warmen Essen sitzt eine kleine Gruppe auf den Bänken vor dem Speisesaal, Türen öffnen sich zu Lebensgeschichten. Ingrid ist da. Mit Mitte 70 wurde sie von Immobilienspekulanten aus ihrer Wiener Wohnung vertrieben, ihr Sohn starb vor Jahren bei einem Bergunfall. Sie ist belesen und gebildet und sieht aus, als wäre sie im falschen Film gelandet. Josip kam 1973 als Gastarbeiter aus Jugoslawien nach Wien. Er fand Arbeit als Elektriker. Später schuftete er 12 Stunden am Tag in einem Kraftwerk und lebt nun allein in einem Obdachlosenheim in Graz. Robert aus Kärnten ist da, mit Ekzemen an den Beinen und weißer Haut, dünn wie Papier. Fröhlich fragt er, ob wir ihn zum Wörthersee begleiten möchten. „Kommt ihr schwimmen?“ Dann steht er plötzlich unruhig auf und pustet sich minutenlang den Staub von den Armen, den nur er sehen kann.

Christine, um die 40, hat Linguistik studiert und unterhält sich auf Französisch mit Viktor, einem gebürtigen Italiener, ein paar Jahre älter, kunstinteressiert und wortgewandt. Er ist mit dem Fahrrad unterwegs. In einer seiner Satteltaschen hat er einen Band des französischen Dichters Rimbaud. Er lebt lieber auf der Straße als in einem Heim, weil er nicht genug Luft bekommt. Mit einem Gutschein – seinem letzten –, den er einst für ein Buch bekommen hat, lädt er mich auf einen Kaffee in die Stadt ein. Er zieht einen Zeitungsausschnitt aus der Tasche, auf dem steht: „Einladung zum Sommerfest“ in einem schicken Grazer Stadtteil. Für Essen und Trinken sei gesorgt, steht da.

„Ich bin morgen ab Mittag da“, grinst er. „Kommst du mit?“

Klar. Aber am nächsten Tag bin ich zur vereinbarten Zeit allein an der Adresse. Viktor sehe ich nicht mehr.

Was ich im Marienstüberl lerne: Das Herz bricht alle Regeln, überwindet Grenzen tausendmal schneller als der Verstand. Wenn wir die Tür öffnen, über soziale Schichten und Vorurteile hinweg, passiert etwas mit uns. Verbindung entsteht. Wir werden beschenkt. Vielleicht tragen wir alle tief in uns die Sehnsucht nach solchen Momenten.

Wenn es an Grazer Frühsommerabenden dunkel wird und die Studenten in den Kneipen feiern, verkrieche ich mich für die kommenden Nächte unter der Treppe zur Warenausgabe im Industriegebiet. Der Lärm der Züge, der Verwesungsgestank aus einem nahegelegenen Tierkotcontainer, die Autos mit glitzernden Alufelgen, die Dealer und Freier, Gewitter und strömender Regen, mein Beckenknochen auf dem harten Asphalt – es ist ein beschwerliches Leben.

Was bleibt?

Mario zum Beispiel. Der Caritas-Betreuer ist der Einzige, dem ich in diesen Tagen meine Identität preisgebe. Er arbeitet gerade in der Spätschicht im Ressi-Dorf, als wir uns treffen. Das „Dorf“, eine Handvoll Einbaucontainer, liegt nur wenige hundert Meter von meinem Parkplatz entfernt. Bei einem Spaziergang in der Dämmerung entdecke ich die kleinen Wohneinheiten und betrete neugierig das Gelände. Rund 20 Obdachlose leben hier dauerhaft, allesamt schwer alkoholkrank. Die Stimmung ist überraschend entspannt, von Depressionen keine Spur. Einige sitzen an einem Tisch im Hof ​​und winken mir zu.

„Hallo, ich bin Mario!“, begrüßt mich der Teamkoordinator im Gemeinschaftsraum. Später erfahre ich, dass er eigentlich Wirtschaftsingenieurwesen studiert hat, dann aber hier angefangen hat zu arbeiten und nie wieder aufgehört hat. Jetzt schüttelt er mir die Hand. „Und du?“

Er fragt mich, wie er helfen kann. Er ist direkt und bohrt nicht nach, bietet mir aber ein Glas Wasser an. Er hört zu. Als ich ihm erzähle, dass ich aus Wien komme und die Nacht auf der Straße verbringe, greift er zum Telefon, um einen Schlafplatz zu organisieren. Doch ich winke ab. Am nächsten Abend schaue ich wieder vorbei. Mario hat wieder Spätschicht. Diesmal will ich mich nicht verstellen. Nach ein paar Minuten erzähle ich ihm, warum ich hier bin, von meinem früheren Job als Pilotin und dem Mittagessen im Marienstüberl, von der Nacht auf dem Parkplatz und meiner Familie in Wien.

Er sagt, meine Sprache und mein Gang seien ihm sofort aufgefallen: „Du bist es gewohnt, mit Menschen in Kontakt zu treten. Das kann nicht jeder.“

Bald sprechen wir über Politik und Studiengebühren, über unsere Töchter, die ungleiche Verteilung von Reichtum und darüber, was es bedeutet, bedingungslos zu geben. Er zeigt mir Fotos von Bewohnern, die inzwischen verstorben sind, aber am Ende ihres Lebens hier noch einmal ein Zuhause gefunden haben. Sie blicken entspannt in die Kamera. Manche umarmen sich und lachen.

„Es ist eine ehrlichere Welt“, sagt Mario über seine Kunden.

Klingt es zu kitschig, wenn ich sage, die bleibenden Momente dieser vier Tage unterwegs seien jene, in denen die Menschen mich nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen sahen? So fühlt es sich an. Der Gesichtsausdruck der jungen Frau auf der Murbrücke. Die Bäckerin am zweiten Morgen, die mir eine Tüte Gebäck überreicht und beim Abschied spontan erwähnt, mich in ihr Abendgebet einzuschließen. Viktors letzter Kaffeegutschein, den er mir ohne zu zögern gibt. Josips Einladung zum gemeinsamen Frühstück. Die Worte kommen zaghaft, fast unbeholfen. Er spricht selten.

Nach einer letzten Nacht im Regen, in der irgendwann selbst mein Platz unter der Betontreppe nicht mehr trocken bleibt, bin ich froh, wieder nach Hause fahren zu können. Und für einen Moment fühle ich mich tatsächlich wie ein Betrüger – als hätte ich meine Tischnachbarn verraten, die beim Frühstück im Marienstüberl sitzen und diese Möglichkeit nicht haben.

Ich liege auf der Holzterrasse im Augarten und schaue in den Himmel. Vier Tage lang habe ich von einem Moment zum nächsten gelebt. Verschluckt von der Welt, ohne Notizbuch, ohne Handy im Vakuum der Zeit. Endlose Tage, in denen ich durch die Straßen irrte, auf Parkbänken döste und von den Almosen anderer lebte.

Jetzt lasse ich mich von der Sonne wärmen. Genauso wie der Student mit dem dicken Medizinbuch neben mir. Die Kinder beim Fußballspielen. Die Muslimin unter dem Schleier. Der Jogger mit seinem Hund. Der ältere Herr auf seinem Fahrrad. Drogendealer und Polizisten. Obdachlose und Millionäre.

Freiheit bedeutet, nicht jemand sein zu müssen. Es bedeutet zu spüren, dass wir alle das gleiche Recht haben, hier zu sein – unseren Platz in dieser Welt zu finden und sie so gut wie möglich mit Leben zu füllen.

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COMMUNITY REFLECTIONS

12 PAST RESPONSES

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Rohit Rajgarhia Nov 13, 2024
I could read it at leisure now. My heart had slowed down as I read it from beginning to end. And there were moments I was close to tearing up. Here are couple such nuggets I highlighted --    -- She looks at me so gently for a moment that her gaze, which lasts no longer than a second, carries me through the rest of the day. There is no question, no criticism, no rebuke - just kindness. She gives me a smile that is worth more than anything. There are not many coins in the cup anyway. 40 cents in half an hour. That's not enough for a big breakfast. -- Soon we are talking about politics and tuition fees, about our daughters, the unequal distribution of wealth and what it means to give unconditionally.  -- The baker on the second morning who hands me a bag of pastries and spontaneously says as she says goodbye that she will include me in her evening prayers. Viktor's last voucher for a coffee, which he gives me without hesitation. Josip's invitation to breakfast together. ... [View Full Comment]
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Astrid Aug 17, 2024
Bravely lived, just you yourself, nothing else. Thank you for this!
Reminded me of what my father used to tell me when I was locked in self-doubt and fear: „God doesn‘t love you because of how or what you are, but simply because you are.“
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Mark Foley Jul 24, 2024
Dear brother Michael, thank you for sharing this meaningful experience with us. While this three night journey was brief it was nevertheless courageous. I'm reminded of this quote by His Holiness the Dalai Lama "The more you are motivated by love, the more fearless and free you action will be." This feels like a love story to me. Thanks again!!!
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Cathy B Jul 19, 2024
What an amazing and inspiring story - we live in a world where people are consumed with selfishness and greed and if we can only stop for a moment and reflect on the the lives of those less fortunate than we are, listen to their stories and show a little kindness, compassion and love, we will all become better human beings.
I have been fortunate enough to do volunteer work over the years with the homeless, troubled youth, refugees and dysfunctional families and I am so thankful because this has helped me to become a more tolerant and understanding person - my experience has been that they all crave a little kindness, understanding and love, a small price to pay and offer to make a difference in someone's life - let's keep this dream alive of getting out there and helping change this sad world in which we live to become a better place.
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Anna Strub Jul 19, 2024
This story moved me to tears. I'm currently facing a challenging period in my life, and the recurring themes of honesty and heartfelt communication deeply resonate with me. Thank you for sharing this meaningful and relevant story in a world often marked by selfishness and entitlement. Amid today's complexity and uncertainty, I hope everyone can experience a similar sense of appreciation for their own circumstances and for others.
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Tiba Jul 18, 2024
I love this story - the thoughts you share so honestly and the heart you open to everyone. it's a pleasure to read it ❤️
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Nathalie Sorrell Jul 18, 2024
So compelling a read… on my 77th birthday you give me what I’ve avoided though my fear has also been laced with compassion for so many years… fear of homeless drove me to work with Prisoners… relief to find some from Jesus’words (“feed the hungry, clothe the naked, take in the stranger, care for the sick, visit the prisoners.” Haunted me … finally 17 years with women in prison healed some shame and reminded me of our kinship yet still…) this gift from you helps and restores wonder. Thanks for making this adventure into our kinship with all humanity available. God bless the rest of your adventures!
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Kristin Pedemonti Jul 18, 2024
I relate to the open heart aspect of this piece. Starting in 2008 until 2020 I shared Free Hugs on the streets of the US, and in 29 other countries. An encounter with a homeless young man in 2009 resulted in me actively seeking out homeless people to offer hugs, listening and sharing a sandwich & firther conversation when I had any extra money. This was absolutely life altering. Every unhoused person has a name, a life story, wisdom and humanity if only we stop to see, connect and listen.♡
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Elizabeth Jul 18, 2024
Wow, this really broke through to my heart. I will never look at a homeless person the same way again, thank you for this experiment and thank you for sharing it.

It also makes me extremely grateful for all the gifts that I have been given in my life. I feel humbled and troubled and wonder what I can do to help.
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Elizabeth Jul 18, 2024
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Irene Jul 18, 2024
Bravely lived, beautifully written. Thank you!
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Renee OConnor Jul 18, 2024
Wow! This article brought tears to my eyes. I have always wanted to do exactly what you did, but fear has always stopped me. I most likely will never live on the streets as you did, but your experience has inspired me to see with my heart.